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Novalis in der Gosse – Keine wartet schöner
Früher war alles besser. Früher, da war der Kaffee gebrüht und nicht aus aluverschweissten Kapseln. Manchmal sogar mit Zichorie versetzt. Blümchenkaffe. Manche empfanden das als besonderen Genuss. Und die Wegränder – früher waren sie mit bunten Blumen bestückt und nicht hermetisch versiegelt wie. Früher, da blühte sie an allen Wegrändern mit ihren hübschen blauen Blütenständen. Blumen, die an das Blau des Märzenhimmels erinnern, ein Blau von eisigen Gletscherspalten im Hochgebirge, ein Blau so hell und weit wie ein Meer im Norden. War es die Wegwarte, die Novalis zu seinem Heinrich von Ofterdingen inspirierte? Die Blaue Blume, die einen ganzen Tross von Romantikern in ihren Bann zog.
Botaniker sahen das nüchterner. Klarer Fall, Zungenblüten, Hüllblätter, Milchsaft. Eine Asteraceae, Unterfamilie Cichoroideae.
Warten da am Wegrand. Auf viele Bestäuber. Hummeln und Bienen voran, die schätzen die blaue Farbe. Meist ein kurzes Gastspiel, das Auf- und Abblühen der blauen Zungenblüten. An warmen Tagen ist das Spektakel um 10 Uhr schon vorbei und die Hosenbienen haben das Nachsehen.
Zauberpflanzen vielleicht, weil das Blau so verheissungsvoll ist und selten bei den Korbblütlern dazu. Liebeszauber mit Wegwarte war besonders beliebt. Aber das war noch vor dem Internetdating. Vielleicht hat die blaue Blume den Sprung ins 21. Jahrhundert wirklich nicht geschafft. Denn auch Blümchenkaffee, Kaffee aus den gerösteten Wurzeln der Wegwarte, trinkt heut niemand mehr. Blaugelb gestreift standen die Päckchen mit „Kaffeearoma“ oder eben gerösteten Zichorienwurzeln noch in den 80er-Jahren in den Lebensmittelläden des Landes. Heute will die Wurzeln niemand mehr. Nur in Süditalien, da schätzt man die Pflanze jeden Frühling sehr als Wildgemüse, die Wegwartenblätter, besser bekannt als wilder Chicorée. Selbst wenn sie niemand mehr will, so wartet sie noch immer, etwas weniger oft vielleicht, weil ihr kaum mehr Platz gegeben wird. Aber immer noch schön, stolz, stoisch.
Aus: Flora amabilis (Autor: A. Möhl)